Vor ein paar Jahren habe ich eine alte große Bauerntruhe geerbt. Das massive Eichenmöbel bietet viel Platz. Platz für alles, was ich nicht täglich nicht brauche aber auch nicht wegwerfen will. Letzte Woche habe ich sie mal wieder geöffnet und war erstaunt, was ich dort so alles fand: Alte Fotos, Zeitungsauschnitte aus der „Wendezeit“, eine DDR-Fahne und eine Eintrittskarte für ein Rolling-Stones-Konzert von 1990 in Ostberlin.
Während unserer Fortbildungsseminare erleben wir immer wieder Menschen, die ihre „Bauerntruhen“ öffnen. Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, mit biografischen Brüchen und Schrammen erzählen sich ihre Geschichten, stellen sie anderen zur Verfügung. Und, sie entdecken beim Zuhören eigene verborgene „Schätze“ in ihrer Biografie. Ohne die friedliche Revolution von 1989 wären sich diese Menschen vermutlich nie in so einem Seminar begegnet. Ehemalige Berufsoffiziere der NVA und Aktivistinnen des „Neuen Forums, Umweltaktivisten aus dem Westen und Jugendliche, die die DDR nur vom Hörensagen kennen. Was sie eint? Sie haben trotz aller persönlicher Tiefschläge, trotz Arbeitslosigkeit, Krankheiten oder Ehekrisen erlebt, dass eine freie, auf Eigenverantwortung gebaute Gesellschaft Spiel und Handlungsräume eröffnet, von denen einige nie zu träumen gewagt hätten. Und sie haben begriffen, dass dieser Austausch und das gemeinsame Arbeiten einen Rahmen brauchen, den wir als Leitung mit den Teilnehmern aushandeln und dann halten.
Seit 1990 haben wir mit der „Freiheitlich demokratischen Grundordnung“, wie sie im Grundgesetz vor 75 Jahren festgeschrieben wurde, so einen rechtsstaatlichen Rahmen. Er ermöglicht uns, dass wir, wie grade in Russland, nicht staatlichen Repressionen rechtlos ausgeliefert sind. Das Grundgesetz verpflichtet alle staatlichen Institutionen sich an der Menschenwürde auszurichten und diese zu schützen. Es gewährleistet, dass wir unsere Grundrechte, die in vielen Ländern der Erde nicht selbstverständlich sind, wahrnehmen können. Es bietet die Möglichkeit, ungestraft die Regierung und "die Politik" zu kritisieren und dagegen zu opponieren, solange die Menschenwürde anderer und der „Rahmen“ nicht bedroht werden. Manchmal scheint es mir, als wäre dieses Grundgesetz wie eine Bauerntruhe. Etwas verstaubt steht sie unbeachtet auf dem Dachboden. Und viel zu selten sehen wir hinein und heben die Schätze.
Am 9. Juni 2024 wählen wir. In Mecklenburg-Vorpommern sind wir aufgerufen, über die Zusammensetzungen der Kommunalvertretungen und das Europaparlament abzustimmen. Wir bestimmen, wer in unseren Gemeinden das Sagen hat. Und, wir entscheiden darüber, welche Wege wir in Europa gehen wollen. Diese Wahlen sollten wir nicht gering schätzen. Auch unsere Stimme hat Gewicht und Einfluss. Einfluss darüber, ob wir die schwierigen Entscheidungen über unsere Zukunft Menschen überlassen, die klug und ausgewogen ihr Mandat wahrnehmen. Oder, ob wir Menschen in die Parlamente bringen, die auf Kosten der Schwachen und der nachkommenden Generationen ein völkisches und engherziges „Zurück in die Zukunft“ proklamieren? Als ChristInnen und Christen haben wir einen Kompass in der Hand, der uns auch bei Wahlentscheidungen Orientierung bietet. Dieser Kompass zeigt auf „Frieden“, „Bewahrung der Schöpfung“ und „Gerechtigkeit“. Das sind große Themen, die aber auch im Kleinen gestaltet werden. Auch in einer Gemeindevertretung wird entschieden, ob Geflüchtete willkommen sind, ob alternative Energien Vorrang vor einer Umgehungsstraße haben oder die öffentlichen Einrichtungen barrierefrei gebaut werden.
Die letzte Kommunalwahl der DDR vor 35 Jahren war die letzte „Wahl“ vor dem Untergang der DDR. Damals war es riskant, seine Zustimmung zur Einheitsliste zu verweigern und konnte Schikanen und Repressionen nach sich ziehen. 2024 brauchen wir weder Haftstrafen oder den Verlust des Arbeitsplatzes fürchten. Es gibt keine Wahlpflicht. Aber es gibt eine Bürgerpflicht, und ich meine, auch eine Christenpflicht, denen unsere Stimme für eine befristete Zeit anzuvertrauen, die sich an demokratische Standards und Verfahren halten und nicht auf dem Rücken von Minderheiten, Ausgegrenzten und Nichtwahlberechtigten, wie z.B. Kinder und „Migranten“ Politik machen.Meine Wunsch ist, dass wir als Christinnen und Christen öfters unsere Schatztruhen öffnen, um die verborgenen Schätze und Talente, die ein demokratisches Zusammenleben braucht ans Licht zu bringen.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser eine weise Entscheidung
Ihr
Karl-Georg Ohse vom "Kirche-stärkt-Demokratie"-Team